Freitag, Juli 07, 2006

Patriotismus - Auferstanden von den Toten?

JUHUUU...der Deutsche ist wieder stolz auf sein Land...Die WM bringt einen unverkrampften Patriotismus mit sich...man findet wieder zu seinem Land...

na...ihr ahnt bereits, was jetzt folgt. Aber nein, es soll keine Kritik sein an dem, was in den letzten Wochen hier passiert ist. Nur an der Naivität, mit der manche Journalisten in den letzten Tagen versucht haben, das Phänomen Patriotismus zu erklären.

Denn irgendwie hört sich das schon komisch an. Da schwenken Millionen von Deutschen ihre Fahne aufgrund sportlicher Zusammengehörigkeit beim Fußball und die Politik klatscht uns direkt einen gesunden Patriotismus dran. Komisch, komisch, wie kommt man bloß von sportlicher Euphorie auf Patriotismus?
Dazu müsste man vielleicht erst einmal festlegen, was Patriotismus überhaupt ist ;)
*wiki aufsuch*
Patriotismus (von lat. patria, Vaterland, bzw. von gr. patrios, von einem Vater stammend), auch Vaterlandsliebe genannt, ist eine Haltung, die eine emotionale Verbundenheit mit der eigenen Nation auf Grund ethnischer, politischer bzw. kultureller Merkmale beschreibt. Patrioten ist daran gelegen, dass ihre Nation in allen Feldern, wie in der Politik, in der Wirtschaft oder beim Sport, möglichst gut abschneidet. Patriotismus unterscheidet sich in seiner Wortbedeutung von Nationalismus und Chauvinismus, indem der Begriff allein die Identifikation mit dem eigenen Land zum Ausdruck bringen soll und damit keine Abwertung anderer Völker und Nationen impliziert werden soll.

Hm, klingt nicht schlecht. Jetzt ist nur noch die Frage, wie die Leute das Ganze aufnehmen. Ist ihnen daran gelegen, dass die Deutsche Mannschaft bei der WM gut abschneidet? Ja, ganz klar. Ist ihnen daran gelegen, dass sie wirtschaftlich und politisch gut abschneiden? Sicherlich, aber doch nicht weil es "ihre Nation" ist. Vielmehr, weil sie gerne kein HARTZ4 mehr beziehen wollen.
Da ist uns doch glatt aus einem sportlichen Patriotismus, einer sportlichen Euphorie, eine allgemeine Vaterlandsliebe gestrickt worden. Zu den Motiven, die dahinter stecken, schreibe ich nachher mehr. Nun zuerst einmal zu den Reaktionen bzw zu den Auswirkungen dieses neuen Nationalgefühls...

Wenn man sich auf den Straßen umhört, bekommt man oft diese Sätze zu hören:
"Endlich kann man wieder stolz darauf sein, Deutscher zu sein"
"Endlich verbindet man mit Deutschland nicht mehr nur die Nazizeit"
"Das ist jetzt alles 60 Jahre her, gut, dass man mal wieder die Fahne hissen darf, ohne damit in Verbindung gebracht zu werden."

Ehrlich gesagt, ich hatte nie auch nur das geringste Bedürfnis, stolz auf mein Land zu sein. Fröhlich vielleicht über die Tatsache, dass ich hier lebe. Aber stolz?
Warum auch? Stolz bin ich auf meine Schullaufbahn und auf einige sportliche Höhepunkte.
Stolz kann man nur auf etwas sein, was man selbst erreicht bzw. wo man selbst mitgewirkt hat. Steht sogar so bei Wiki.
Nun könnte man meinen, das ganze wäre nur eine Verirrung im Wortgeflecht der deutschen Sprache und mit "stolz" wolle man eigentlich "zufrieden" sagen.
Das kann ich beim besten Willen nicht gelten lassen, denn die Worte stolz und Deutschland werden oft in einen Zusammenhang gebracht, der aus einem gewissen Trotzgefühl resultiert.
Wenn man heutzutage sagt, dass man endlich stolz auf sein Land sein darf, dann fühlte man sich die ganze Zeit daran gehindert. Es ist, bei Jugendlichen, ein Denkzettel an die ganzen Lehrer und Institute, die einem jahrelang in der Schule in jedem erdenklichen Fach immer wieder die Zeit des Dritten Reichs und die damit verbundenen schrecklichen Taten im Namen deutscher Geschichte eingetrichtert haben. Man möchte endlich beweisen, dass es vieles gibt, auf dass man auch stolz sein kann. Deutscher Fußball, Deutsches Bier. Und auch auf die Deutsche Geschichte...ähm...Moment...da war irgendwas mit Kanzler Bismarck. Der hat doch die Arbeiter abgesichert...da war doch was mit Krankenkassen...

Naja, wenn man dann mühsam positive Höhepunkte gegen negative Höhepunkte aufgewogen hat, dann betrachtet man zufrieden die Waage und stellt fest, dass man ja wirklich stolz auf Deutschland sein kann...

Wären da nur nicht die Psychologen, die in dem neuen Patriotismus schon andere Möglichkeiten entdeckt haben. Kompensation ist das Fachwort, was in Verbindung mit nationaler Identität gebracht wird.

Dazu zunächst ein kleiner Exkurs:
War einer von euch schonmal in Dortmund auf der Südtribühne? Ja? Dann habt ihr auch bestimmt erkannt, wer da hauptsächlich anzutreffen ist. Richtig, der inzwischen schon fast zahnlose alte Mann, der sein Leben lang treu zum Verein gestanden hat und mit ihm schon Ehekrisen, Jobsuchen und Finanzprobleme durchgestanden hat.

Damit zurück zum Thema:
Dazugehörigkeit kaschiert alltägliche Probleme, ein Phänomen, was auch bei unserer WM anzutreffen ist. Wenn Poldi und Klose stürmen, vergessen die Leute ihre Steuermahnungen, Karrierekrisen, Benzinkosten und Politiker, dann feiern sie frenetisch mit der deutschen Mannschaft. Und weil einem gesagt wird, jetzt dürfe man auch mal wieder stolz auf seine Herkunft sein, schlägt man ein und hat endlich mal wieder etwas, worauf man angeblich stolz sein kann. Soziale und private Probleme werden kompensiert, kaschiert und für einen Moment lang vergessen. Gut, wenn man weiß, dass man auch nach der WM seine Fahne hissen darf.

Nur, auf wessen Fährte begibt man sich da eigentlich? Es ist schon komisch, dass unser Präsident in den höchsten Tönen vom unverkrampften Patriotismus spricht und uns förmlich anfleht, ihn auch nach der WM zu bewahren... und dass die Regierungsparteien dann gerade während der WM mit ihren Steuererhöhungen und sonstigen neuen Rafinessen aufschlagen...

Zufall? Wohl kaum! Denn Patriotismus macht blind. Immer noch. Früher nannte man das ganze gerenell Nationalismus und der machte bekanntlich blind vor rechten Gesinnungen. Heute hat man das Problem nicht mehr, auf jeden Fall nicht bei Leuten, die bis drei zählen können. Sicher gibt es auch noch genügend Deutsche, die sich jetzt mit ihrem neuen Nationalstolz geschwind auf den Weg zur Geschichtsklitterung und Geschichtsrelativierung begeben getreu dem Motto "Endlich können wir Auschwitz vergessen". Aber denen sollte man doch zugestehen, dass sie diese Patriotismusdebatte auch nur als Ventil genutzt haben für ihre nationalistischen Gedanken, die schon längst vorher in ihren Köpfen schlummerten.
Nein, der aktuelle Patriotismus macht vor allem blind vor der aktuellen Politk. Die BILD, die so treu jeden Politikerskandal aufdeckt, badet sich seit neustem in den Farben Schwarz, Rot und Gold und selbst...ääähm...gehobene Zeitungen sind der Meinung, dass der Patriotismus diesem Land gut täte und bewahrt werden müsse. Die größte Steuererhöhung seit Jahren ist da so wichtig wie der Sieg der Deutschen Nationalmannschaft im Hallenhalma...

Mal ganz ehrlich: Gut tut mir im Moment nur die Leistung der deutschen Nationalmannschaft. Wenn ich, um diese junge Truppe zu unterstützen, mir eine Fahne ans Auto mache und mich in den Nationalfarben kleide, dann hat das wenig mit meiner Selbstfindung und meiner nationalen Identitätsbewältigung zu tun. Und wenn ich "leicht angetrunken" in der Fußballkneipe meines Vertrauens Deutschland, Deutschland brülle, dann versuche ich auch nicht gerade, ein gesundes Selbstbewusstsein meinem Land gegenüber zu entwickeln. Ich versuche einfach nur, unsere Mannschaft anzufeuern.

Wenn ich die Fahne nach dem Motto "Jetzt erst recht" auch nach der WM am Auto lasse, dann steckt da mehr hinter. Entweder ich möchte immer noch auf meiner Euphoriewelle weiterschwimmen, die Klinsi und co. zu uns nach Hause gebracht haben und meine Alltagssorgen immer noch vergessen. Das ist menschlich und höchstens ein bisschen naiv.
Oder aber ich brauche etwas, um mein Minderwertigkeitsgefühl auszugleichen. Ich brauche eine Gemeinschaft, in der ich mich wohl fühle.

Man sollte vorsichtig sein, mit welcher Gemeinschaft man sich dann einlässt...


(Erklärung zum letzten Satz: Ich wollte damit auf die Gefahr hinweisen, in welche Kreise ein Trotz-Patriotismus führen kann. Rechtsextreme werben schon lange anders als mit "Ausländer Raus!"-Sprüchen. Sie bedienen sich da, wo man am meisten Wut auf die derzeitige Regierung hat und sich am meisten von allen Institutionen bis hin zur Schule veräppelt vorkommt. Der Jugendliche, der nun endlich stolz auf sein Land ist und Auschwitz in der Schule nicht mehr hören kann, hat die besten Chancen, in die Neonazi-Szene abzurutschen.)

Ich hoffe, der Blog regt zum Nachdenken an, einerseits über den Patriotismus an sich und über die Notwendigkeit, andererseits über die Schuld der Politiker an eventuellem "Missbrauchspotenzial" dieser neuen nationalen Euphorie.
Ich kann zum Abschluss nur einen Satz aus einem Interview mit Gregor Gysi zitieren, der das ganze auf den Punkt bringt:

Länder, die ständig und überall ihre Fahne heraushängen, haben meistens ein Problem mit ihrer Identität, sie fühlen sich von den andern nicht anerkannt. Was denken Sie, warum in der DDR so viele Fahnen wehten?




Auf dass wir morgen die Portugiesen weghauen...

bertel

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